Politikwissenschaftler und Autoren wie Bernd Eisenfeld, Karl Wilhelm Fricke oder Roland Jahn, die selbst einmal Dissidenten gewesen sind, teilen die Auffassung, dass sich die ganze "Revolutionsgeschichte" von 1989 viel zu sehr auf die konzentriert habe, die in der DDR geblieben sind.

Waren es nicht die Ausreisewilligen, die oppositionelle Verhaltensweisen in einem Umfang entwickelten, der es rechtfertigt, von einer tatsächlich politischen Kraft zu sprechen, welche ausreichte, das System zu verändern oder gar zu stürzen? Muss die Ausreisebewegung nicht auch als Bürgerrechtsbewegung gewertet werden? Schließlich zählte das Recht auf Ausreise zu den unveräußerlichen Grundrechten der Menschen in der DDR.


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Auf diese Fragen gibt Wolfgang Mayer, 1950 im Vogtland geboren, heute als Berufsschullehrer in Erfurt tätig, Antworten mit einem 730-Seiten-Band, gegliedert in 5 Kapitel:

  • Die DDR im Zeichen innerer Zerrissenheit, Unruhen und wachsenden   Widerstands im Lande
  • Flucht- und Ausreisebewegung und Erstarken der Opposition als Ergebnisse des allgemeinen Verfalls der Legitimität der DDR
  • Die politische Verfolgung Ausreisewilliger
  • Botschaftsbesetzungen als konsequenteste Form der Bekundung des Ausreisewillens
  • Die Eigendynamik der Ausreisebewegung und Fall der Mauer

 

Die Abschnitte werden detailliert und mit äußerster Sorgfalt behandelt, was allein die 1.650 Fußnoten unterstreichen. Weil die Kapitel getrennt gelesen werden können, eignet sich das Buch sogar als Nachschlagewerk. Mayer wählt durchgängig eine verständliche Sprache. Nahezu alle Sachverhalte werden mit einem 200 Seiten umfassenden Dokumententeil, der sich überwiegend aus bisher unveröffentlichtem Aktenmaterial der Gauck/Birthler-Behörde zusammensetzt, untermauert. 

Der Autor durchforstete hierzu in vier Jahren mehr als 20.000 Seiten Stasi-Akten, die damals vorwiegend von Generalmajor Nieblings mächtiger Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) angelegt wurden. Zudem wird ein tiefer Einblick sowohl in die Struktur als auch Arbeitsweise relevanter MfS-Abteilungen gewährt. Als sei es eine Selbstverständlichkeit, werden bei Mayer die Klarnamen genannt. 
Besondere Abkürzungen und Begriffe sind im Anlagenteil, der auch etliche informative Organigramme, Zahlenübersichten und Graphiken enthält, erklärt. Ein Namensverzeichnis macht das Buch beim Finden bestimmter Zeitzeugen zusätzlich interessant.

Mayer gilt als Insider. Im Herbst 1988, also ein Jahr vor dem Zusammenbruch des SED-Regimes, besetzte er mit weiteren 17 Thüringern die dänische Botschaft in Ostberlin. In einer einmaligen Nacht- und Nebelaktion lieferte der völlig überforderte Botschafter die Flüchtlinge an die Staatssicherheit aus und die "Delinquenten" erhielten mehrjährige Haftstrafen. In Dänemark löste diese Aktion eine Regierungskrise aus. Wenig später wurde diese Angelegenheit ein Fall für die Internationale Menschenrechtskommission in Straßburg.

Der Autor dokumentiert zahlreiche weitere gelungene und gescheiterte Fluchtaktionen - von den Tunnelaktionen der 60er Jahre über Auslands- und Ostseefluchten bis hin zu eben jenen in diplomatische Missionen. Dabei erfährt u. a. auch der Mut einzelner Fluchthelfer eine verdiente Würdigung. Es wird nachgewiesen, welche bedeutende Rolle die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin für die Ausreisewilligen insgesamt spielte; ebenso, wie das Besetzen der deutschen Botschaften in Budapest, Warschau sowie Prag den Wendeherbst 1989 herbeizwang.

 

"Die effizienteste Form des Dokumentierens von Ausreisebegehren war", so Mayer, "nach Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki die Festsetzung in diplomatischen Missionen westlicher Staaten". Diese Festsetzungen verliefen allesamt friedlich. Nach Gandhi'schem Vorbild ist gewaltfreier Widerstand der restriktiven Politik eines totalitären Regimes entgegengesetzt worden.

Einer Diktatur, die unerbittlich gegen ihre Kritiker vorgegangen ist. Doch sowohl die politische als auch schwerste strafrechtliche Verfolgung von Flüchtlingen, Ausreisewilligen und Botschaftsbesetzern sind, wie entsprechende Statistiken im Buch zeigen, erfolglos geblieben. Die Maßnahmen der SED-Führung, die das Ministerium für Staatssicherheit im Zusammenwirken mit den regionalen Politikern umzusetzen hatten, waren allenfalls geeignet, Wirkungen, nicht aber deren Ursachen zu bekämpfen oder gar zu beseitigen.

"Genützt hat alles nichts. Vielmehr fügte es die Geschichte, dass das Desaster des DDR-Sozialismus nicht nur durch die Massendemonstrationen im Herbst 1989 herbeigerufen wurde, sondern die Flucht- und Ausreisebewegung unaufhaltsam wesentlich dazu beigetragen hat. 1989 steigerte sie sich in einem Umfang und in Formen, wie sie bis dahin kaum vorstellbar waren ...".

Letztlich haben Republikflucht und Ausreise aus der DDR den Zusammenbruch des DDR-Sozialismus genauso mit herbeigeführt wie die Massendemonstrationen in Leipzig, Ostberlin und anderswo im Herbst 1989.
"Wenn 3,7 Millionen Menschen den Weg nach Westen gesucht und sich auf ihre Weise gegen den Staat das Recht ertrotzt haben, über sich selbst zu bestimmen, so war dies auch eine Form der Systemauseinandersetzung", führte Fricke am 30.3.1999 in einem Vortrag in Tutzing aus.

Auch Arnold Vaatz, der sächsische Minister, den nach eigenem Bekunden selbst jahrelang Ausreisegedanken plagten, bestätigt dies:
"Jenen, denen Freiheit wichtiger war als Geld und Gut, Heimat und die Nähe zu Freunden ist viel zu verdanken. Ohne sie wäre uns die DDR erhalten geblieben." (Der Tagesspiegel, 30.9.1999)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das kritische Buch gerade noch zur rechten Zeit erschienen ist. In einer Zeit, in der 20 Stasi-Generäle und Oberste "mit Sicherheit" die (Zeit-) Geschichte zu klittern versuchen. Die Rechtfertigungen, bagatellisierenden Darstellungen und Schwindeleien der Neiber und Niebling, Wolf und Rataizick werden mit Mayers Buch nicht bloß entlarvt, sondern gewissermaßen platt gemacht. 



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Buchandlung89

Bestell-Nr.: 9783925434976 

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